Texte

Dr. Günter Baumann

Das Bild als Architektur
Zur Kunst von Karl-Heinz Bogner

Katalog: „Karl-Heinz Bogner: Raumfolgen / Sequences of Space“
Galerie Kränzl, 2011

Sie sagen: Raum sei nur von vielen
Eine der Möglichkeiten, eine Form
Anzuschauen. – Was denn anzuschauen,
Die Form? Den Raum? Sie sagen:
Ob Welt im Raum sei, außer Raum,
Und ob Raum selbst sei, wäre nicht erwiesen,
Nicht zu erweisen, wäre nur zu tun.
Was tun? Raum anzuschauen, oder ihn
Als Werkzeug nutzend mit ihm anzuschaun?
Den Raum? So schaun wir Raum mit Raum?
Die Welt mit der Welt? Wir sind Welt. So viel meines Auges
Ist Welt, als sie mir sichtbar ist.
[…]“
(Otto zur Linde, aus: Denken, Zeit und Zukunft)

Auf einem seiner zahlreichen Skizzenblätter umkreist Karl-Heinz Bogner das selbstgestellte Thema “Bauteil + Landschaft”, auf dem das “Bild” mit Architektur und diese mit Landschaft in Beziehung gesetzt ist; auf einem anderen Blatt entwickelt Bogner die Architektur aus dem Objekt und das Objekt aus dem “Bild”, je nach Anschauung als Hintergrundgerüst oder als Schichtung gesehen: So weit diese “Notationen”, wie Bogner diese im Schaffensprozess eingebetteten, meist wie flüchtig dahingeworfenen Entwurfszeichnungen nennt, vom Ergebnis der Gemälde, Collagen und Plastiken entfernt zu sein scheinen, so erhellend ist es, ihrem sensiblen, noch suchenden Strich zu folgen. Die Skizzen sind tatsächlich als die sichtbaren Spuren anzusehen, auf denen die Vorstellung zum Bild wird. Heinrich von Kleist hat in einem berühmt gewordenen Aufsatz “über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden” (1805; veröffentlicht 1878) nahegelegt, dass Gedanken, welche allein durch das Nachdenken, die Meditation, noch keine Gestalt annehmen wollen, sich im Reden darüber zur Idee verdichten – die unbewusst, im “halb ausgedrückten Gedanken” vielleicht schon “begriffen” wurde. Da nach Kleist das Gegenüber bei der Gedankenfindung gar nichts von der Materie verstehen müsse, könnte man den Satz auch jenseits der dialogischen Anlage abwandeln in ein Statement über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Zeichnen. Abwegig ist das schon deshalb nicht, weil gerade der Zeichenstift das authentischste Medium ist, um einen Gedanken zu Papier zu bringen. Der “Griffel” wird sozusagen zum Medium des Begreifens. Längst ist die Zeichnung, die über Jahrhunderte hinweg ein Schattendasein in der Kunst fristete, als Gattung neben die anderen – die Malerei, Plastik usw. – getreten.
Es ist kein Zufall, dass sich in den letzten Jahren vermehrt Ausstellungen eigens der Zeichnung widmeten, auch dass sich ausgewiesene Zeichner einen Namen machten, was früher nur im Umfeld des malerischen oder skulpturalen Schaffens denkbar war (oft genug wurde darauf hingewiesen, welche zeichnerische Begabung gerade bei Bildhauern zu beobachten ist, wenn es um die Plastizität, sprich: die Darstellung von und im Raum geht). Karl-Heinz Bogner ist zwar nicht in erster Linie Zeichner im traditionellen Sinn, doch weist sein malerisches Werk, das auch Collagen umfasst, deutlich lineare Züge auf, und selbst die Plastiken sind in ihren konstruktivistischen Anleihen gleichermaßen der Linie wie der Architektur verpflichtet, die bekanntlich als praktische Wissenschaft auf Konstruktionszeichnungen basiert. Bogner selbst bezeichnet sie als “gebaute Zeichnungen”. Ein Blick in seine Vita genügt, um zu sehen, dass der Künstler von Hause aus studierter Architekt ist – auch wenn er sich früh den freien Künsten verschrieben hat. Inzwischen sind seine betont raumbezogenen Gemälde und Objekte in weit über 50 Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt worden, so dass man fast versucht ist, ihn auch einmal, “back to the roots”, als Architekten wahrzunehmen – und sei dies nur inspiriert vom gegenwärtig auffälligen Interesse an Künstlern wie Peter Paul Rubens (Rubenshaus, Antwerpen) oder Ernst Ludwig Kirchner (Mathildenhöhe, Darmstadt) “als Architekt”.

Ist ein einschlägig zum Baumeister befähigter Diplom-Ingenieur erst Architekt, wenn er ein Haus gebaut hat? Gut, bevor er in die Architekturpraxis hätte einsteigen können, lag für Karl-Heinz Bogner fest, dass er seine raumgestalterischen Kenntnisse fortan in der Fläche und aus der Fläche heraus erarbeiten wollte. Das sogenannte Handwerkszeug des Architekten, die Zeichnung und das Modell, hat er sich erhalten. Und so “erbaut” er sich auf der Leinwand und auf dem Papier nicht nur seine ausdrücklichen Raumthemen wie Rückzugs-, Schutz- oder Zwischenräume, sondern auch gleich die diesbezüglichen Schauräume dazu: In einem Interview mit Simone Kraft, Preisträgerin des Wolfgang-Hartmann-Preises 2011, die u. a. auch Bogner in ihr Ausstellungsprojekt “(In)Visible Cities” (nomen est omen!) aufgenommen hat, bekannte der Künstler: “Jede größere Ausstellung von mir plane ich zunächst im Modell. Die Ausstellungsräume, von denen ich meist Pläne vorliegen habe, baue ich einschließlich der ausgestellten Arbeiten in einem bestimmten Maßstab nach. Dieses Modell bildet dann die Grundlage, anhand der dann die Ausstellung vor Ort realisiert wird. Mein Anliegen ist es, die Arbeiten in den vorhandenen Raum so zu integrieren, dass sie mit ihm eine Symbiose eingehen und somit eine Gesamtkomposition entsteht.” (AZ /Architekturzeitung) Karl-Heinz Bogner überlässt nichts dem Zufall und spielt doch mit der Form. Es gehört zu den faszinierendsten Phänomenen seiner Malerei, dass er von einer lyrischen Abstraktion ausgeht, die in der Schichtung von Linien, Flächen und fein nuancierten Farben sogar eine gestische Handschrift erlaubt, um am Ende aber doch eine Räumlichkeit zu imaginieren, die einmal in kafkaesk- kristallklarer Undurchdringbarkeit, ein andermal in nahezu fotografisch anmutenden Zimmerfluchten mündet. In der Tat gibt es Fotografien Bogners von abgelegenen Industrieanlagen, Baustellen, Rohbauten, die sich in seinem Werk in fern anklingenden Assoziationen widerspiegeln, die sich ohne den direkten Vergleich absichtsvoll verspielen.
“Mich interessiert das Unfertige, das Fragmentarische und Provisorische …, Räume, die sich im Entstehungsprozess befinden”, so Bogner in dem genannten Interview. Das Prozesshafte wird auch dadurch verstärkt, dass sich der Raum einer perspektivisch festgelegten Realität verschließt. Im Vor- und Hintereinander der Flächen und der Gleichzeitigkeit des linearen Netzwerks entsteht eine Dynamik, die das Mitwirken des Betrachters evoziert: So menschenleer, wie sich die fluchtpunktlosen Bilder oberflächlich geben (wo sollten sie, die Menschen, in dieser Zweidimensionalität auch konkret ihren Platz finden?), sind sie bei tiefergehender Betrachtung nicht, verleiten sie uns doch, “hinter” die Schichtungen zu schauen. Als Zwischenraum, Passage oder übergang begriffen, treten wir gedanklich in den Bildraum ein und machen wir uns zum Teil der inhaltlich offenen Arbeit.

Zurück zu den eingangs erwähnten Skizzenblättern, die in einer Auswahl hier vorliegen. Der Spontaneität des teils freihand, teils mit dem Lineal gezogenen Strichs, der sich also erst noch der Gedanken versichert, welche dann relativ nüchtern Form annehmen, räumt Bogner in den weiteren Phasen der Arbeit keinen solchen Stellenwert mehr ein. Die Prozessskizzen sind dennoch ständige Begleiter und Korrelative des Malers und zugleich Lehrstücke des Denkers – ein Blick in das Atelier von Karl-Heinz Bogner genügt, um dessen bezwingende Ordnung im vermeintlichen Chaos vor Augen zu führen und um zu demonstrieren, wie ernsthaft der Künstler auch auf dem Papier ein kosmisches Gefüge entwirft und wie locker umgekehrt die vollendeten Werke bei aller reflektierten Strenge der Ausführung wirken. Die Bilder im Kopf und selbst die oben erwähnten Fotografien mögen an die sichtbare Welt anknüpfen – sie sind letztlich vom fertigen Gemälde aus gedacht; beim Zeichnen jedoch bleiben sie noch außen vor: Karl-Heinz Bogner bedient sich einfacher Formen, setzt sie in eine Beziehung zueinander (Kompositionsstudie), differenziert sie in Schichtungen, konturierten Flächen, farbigen Markierungen (Bildaufbau) und spielt mit den Möglichkeiten dreidimensionaler Gestaltung (Bildraum) . Von dort aus würde der Architekt zur konstruktiven Zeichnung übergehen, die den begeh- und bewohnbaren Raum vorbereitet; der Künstler wandelt sozusagen auf kreativen Abwegen zur ähnlich konstruktiven Malerei und Collage oder zum Objekt, die auf ein Bild als Raum, ja ein Bild als Architektur abzielen. Bogner nennt diese Bilder “Raumfolgen”. Legen wir die Zeichnung in ihrer Unmittelbarkeit und als sichtbare Verifizierung des Denkens zugrunde, können wir den Raum – mit den Assoziationen von Schutz, Rückzug und übergang – auch als Lebensraum deuten. So sind wir wieder beim Motiv des Bauens angekommen, denn “Bauen bedeutet Gestaltung von Lebensräumen” (Walter Gropius).

Die angesprochene Leichtigkeit ist dem Gespür des Architekten geschuldet. Zunächst glaubt man eher einen gegenteiligen Effekt wahrzunehmen – formal prallt man an dem chiffrierten Netz von Linien und Flächen ab, inhaltlich erscheinen die Arbeiten unzugänglich, undurchdringbar, sprich: der Betrachter fühlt sich ausgegrenzt, verunsichert zudem durch die nahezu monochrome Farbigkeit und die sperrigen Schwarz-Elemente, die wie Balken oder Barrieren das Sichtfeld stören und Einhalt gebieten. Doch welche Vielfalt der Bearbeitung erschließt sich uns bei näherem Hinsehen! Das Schwarz selbst stuft sich in Grautönen ab, bildet mit den Linien ein Gerüst, das keineswegs statisch ist, sondern rhythmisch in Bewegung kommt durch die weiß überdeckende Acrylfarbe, die die Stege und Stäbe tiefenräumlich verblassen lässt, und durch die sensiblen Farbmischungen, die eine Schwingung hervorrufen, dank der wir ins Bild gelockt werden. Am besten kann man das in den Großformaten nachvollziehen, die einen langen künstlerischen Atem erfordern. Karl-Heinz Bogner setzt seine Bildideen auch Großformaten aus, auf denen sie ohne konstruktives Denken auf diesem Spannungsniveau kaum auf Leinwand zu übertragen wären. Zwar arbeitet Bogner mit mehrteiligen Bildträgern, die im Diptychon oder Triptychon die Erhabenheit der Arbeit allenfalls noch steigern. Unweigerlich kommen einem Vorstellungen von Sakralität in den Sinn, die im günstigsten Fall existenzielle Gedankenräume entstehen lässt. Was sich vordergründig wie eine türlose (Glas-)Wand vor uns aufbaut, wandelt sich in der Wahrnehmung zur Schwelle. Was uns als Geflecht wenig zugänglich erschien, öffnet sich der Neugierde. Sie muss gar nicht konkret zu bestimmen sein: Es reichen die bloßen Fragen, was sich hinter den schwarzen Flächen verbirgt, wie man die weißlichen Gazeschleier überwinden könnte oder wo etwa ein gesetztes Licht oder gar ein Lichtstreifen, die Durchgänge vermuten lassen, hinführen könnten. Die ebene Fläche gerät so in eine tiefenwirksame Schwingung: Die malerische und die zeichnerische Qualität spielen dem Betrachter gegen die zu erwartenden Regeln Streiche – die unbunte Schwarz-und-Weiß-Malerei weicht kaum merklich leuchtenden, warmen Gelb- und Rottönen, die in Konkurrenz mit dem eher eisigen Bläulichweiß jeglichem konstruierten Minimalismus trotzen, genauso wie leicht geschrägte oder freihändig gezogene, “harte” und “weiche” Linien das strenge Korsett aus Waage- und Senkrechten aufbrechen. Subjektive und objektive überlegungen halten sich in Balance.
Karl-Heinz Bogners Werk ist an Sublimität kaum zu überbieten – der Nuancenreichtum in Form und Farbe und die Un-Ruhe zwischen Geometrie und Geste ermöglichen dem Maler eine Öffnung vom rein Abstrakten zum Gegenständlich-Räumlichen hin. Den Raum definiert Bogner dabei kaum über die Perspektive, vielmehr bedient er sich einfacherer Mittel wie übereinandergelegter Flächen, Farbkontrasten oder scheinbar räumlicher Körper.

Dass ein Grenzgänger wie Karl-Heinz Bogner sich nicht mit der Fläche begnügen kann, liegt auf der Hand. Als würden sich die schwarzen Elemente selbständig machen, begegnen wir ihnen in mehrteiligen Objektarrangements und Einzelplastiken wieder, die ihren Entwurfscharakter gar nicht verbergen und doch zugleich die Modellhaftigkeit hintertreiben. Diese kleinen fragilen Gehäuse, die Bogner selbst mit “Eremitagen” oder “Hochsitzen” verglichen hat, greifen die Schutz- und Rückzugsthematik wieder auf, denken sozusagen sein konstruktivistisches, für die Flächenkunst konzipiertes Programm weiter. Der Maler agiert als Architekt, der das Bauwerk als Skulptur begreift. Während Architekturmodelle in der Regel weiß sind, bemalt Bogner seine plastischen Arbeiten bewusst in Schwarz oder Grau – die symbolische Bedeutung ist evident. Davon abgesehen könnte man sich diese Modelle zwar in vergrößer tem Maßstab auch im öffentlichen Raum vorstellen, doch blieben sie auch da allenfalls Chiffren von Architektur, in ihrer existenziell-fiktiven und selbstgenügsam-“nutzlosen” Potenz. So kann man den Objekten aus Stäben, Stegen und Karton ihre Nähe zur Architektur nicht absprechen, sie bleibt aber – immerhin in der dritten Dimension – auf der Ebene hermetischer Gedankenräume, die auch schon Bogners Malerei prägt. In der konsequenten Weiterentwicklung spitzt sich zu, was man längst vermuten konnte: Karl-Heinz Bogner gibt seelische Befindlichkeiten wieder. Darüber hinaus darf man jedoch die pure Lust am Umgang mit der Form nicht verkennen. In langwieriger Kleinarbeit entstehen architekturnahe “Kästen”, die alle Gattungen (Zeichnung, Malerei, Plastik) auf sich vereinen. Deshalb überrascht es nicht, wenn Bogner in jüngster Zeit wieder eine Kehrtwende eingelegt und die Erfahrungen mit dem tatsächlichen Raum für die Malerei nutzbar gemacht hat. Die Rede ist von den Collagen, die in einer Serie von 2006 – 09 nicht nur das Malerische bewusster denn je zelebriert und in einer weiteren Serie von 2011 wiederum das rein Konstruktivistische in einer neuen Vielschichtigkeit präsentiert. Wesentlich ist, dass die Collagen gleichsam reliefartig auf die bestehende Illusion der Räumlichkeit reagieren. Die erhaben übereinander geklebten Schichten werfen Schatten, die das malerische Moment von Vorder-, Mittel- und Hintergrund völlig neu definieren. Mehr denn je macht Karl-Heinz Bogner damit in seinen Malerei-Collagen Plastizität und letztlich das Bild von Architektur sichtbar, indem er die Grenzen nicht verwischt, sondern spürbar überschreitet, wohl wissend, dass man dem Raum auch in Gedanken folgen kann. Der Lyriker Otto zur Linde, von dem das Mottogedicht stammt (“Sie sagen: Raum”), das in der Grenzübertretung mündet, macht sich in einem anderem Gedicht (“Sie sagen: eine Art anzuschaun”) im selben Kontext Gedanken über die Ausdehnung des Raums und das “Auseinanderrollen aller Sichtbarkeit”, die den Begriff der Raumfolgen auch auf uns ausdehnt, die wir uns immer als im Raum befindlich begreifen müssen: “Es ist ein Raum, aber wir sind vier, / Form und Anschaun, Raum und ich”.

Dr. Günter Baumann, Oktober 2011