Texte

Prof. Dr. Klaus Jan Philipp

Anverwandelte Architektur
Zur Arbeit von Karl-Heinz Bogner.

Katalog: „Karl-Heinz Bogner: Orte, Räume, Notationen / Places, Spaces, Notations“
Architekturgalerie am Weißenhof e. V., Stuttgart, 2020

Karl-Heinz Bogner ist ein Grenzgänger zwischen den Künsten. Er sperrt sich einer eindeutigen Zuweisung zu einer der Gattungen Malerei, Grafik, Plastik. Er bewegt sich mit einer gewissen Unbefangenheit und gleichzeitig mit suchender Präzision auf schwer festlegbare Weise dazwischen, mal in die eine, mal in die andere Richtung tendierend. Bogner hat Architektur und Design an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart studiert. Deshalb wundert es nicht, dass Architektur in seinem Werk den Hauptplatz einnimmt. Es geht jedoch nicht um Architektur als solche, um Bauten und Entwürfe, sondern um Themen der Architektur, um Fragen, die durch Architektur aufgeworfen und nur durch Selbstreflexion auf Architektur beantwortet werden können. Die gebaute Umwelt, einschließlich der Landschaft, ist für Bogner der Bezugsrahmen, aus dem er die Ideen für seine Kunstwerke – Zeichnungen, Bilder und Objekte – zieht, abstrahiert und neu komponiert. Dabei entstehen neue Welten, die in sich als Kunstwerke schlüssig sind, gleichwohl auf eine architektonische Wirklichkeit verweisen, die uns vertraut ist. Oder uns zumindest vertraut erscheint, denn durch den künstlerischen Akt der kreativen Anverwandlung von Architektur und der gleichzeitig sich vollziehenden Entfremdung von Architektur entsteht jenes zittrige Vibrieren zwischen dem selbstversichernden Wiedererkennen von Formen und der irritierenden, uns taumeln lassenden Erkenntnis, dass sie doch nicht das sind, was sie zu sein scheinen.

Ein kleiner Ausflug in die Kunstgeschichte solcher Grenzgänger zwischen den Gattungen mag erhellend sein. Kasimir Malewitschs in den 1920er Jahren entstandene Architektone, Kompositionen von verschieden großen weißen Kuben, verleiten dazu, in ihnen Architekturprojekte zu sehen, was sie allerdings nicht sind. Erst ein zweiter Blick offenbart, dass die Kuben zwar in gewisser Relation zueinander stehen, jedoch in einer abstrakten nicht auf baubare und funktionale Architektur bezogenen Weise. Die »Modelle« zu Constants großartigem Projekt »New Babylon« von 1967 irritieren wegen ihrer architekturnahen, zuweilen mit »realen« Elementen versehenen fragilen Konstruktionen, die den »Luftraum« zwischen den Elementen – Stäbe und Plexiglasscheiben – thematisieren. Weiter hat sich Daniel Libeskind in den späten 1980er Jahren in seiner raumfüllenden Installation »House without walls« mit solchen gattungsübergreifenden Themen beschäftigt, die in diesem Fall Tendenzen dekonstruktivistischer Architektur jenseits der Demarkationslinien zwischen den Künsten thematisieren.

Das Werk Bogners steht also in einer hochrangigen Traditionslinie. Allerdings ist er nicht solchen Vorläufern verpflichtet, sondern entwickelt seine Themen aus seinem inhärenten Verständnis von Architektur und Raum. Vor allem der Raum, Raumthemen und die »Präsenz von Raum als Gegenstand« interessieren ihn. Also das, was zwischen den Formen und Elementen geschieht, wie sie sich aufeinander beziehen, Kontakt aufnehmen oder ablehnen, sich ergänzen und zusammenschließen oder einander abstoßen und den »Luftraum « zwischen sich aktivieren. Aber auch die gebaute Umwelt steht in seinem Fokus, sie ist das »Themenreservoir« für seine Zeichnungen und Gemälde wie für seine Objekte. Hier findet er die Raumthemen, die dann zu seiner Kunst leiten. Einer Kunst, die grundsätzlich über Architektur spricht.

Was aber ist Architektur? Diese Frage ist nicht so alt wie die Architektur, sondern eine eher moderne Frage, die mit der Einfühlungsästhetik des späten 19. Jahrhunderts ihren Beginn nahm. Die Wirkung eines Gebäudes auf den Betrachter, das Raumgefühl, das Raum-Zeit-Kontinuum in der Architektur wurde seither thematisiert und erlebte seinen Höhepunkt in den 1920er Jahren, als der Ort der Architektur gegenüber den Bildkünsten gesucht wurde. Die Frage nach der »Wesensbestimmung der Architektur« erlebte damals, ausgelöst durch die »moderne Bewegung« und zugleich auf die Moderne rückspiegelnd, einen intellektuellen Höhepunkt, der bis heute unser Verständnis von Architektur prägt. Der Kunsthistoriker Dagobert Frey definierte 1925: »Indem das architektonische Kunstwerk in der ästhetischen Betrachtung aus der praktischen Wirklichkeit herausgehoben wird, die raum-zeitliche Verknüpfung mit dem betrachteten Subjekt aber bestehen bleibt, muß dieses selbst aus seiner Wirklichkeit herausgehoben werden; d. h. wir fühlen uns, wie eine bezeichnende Redewendung besagt, wie »in eine andere Welt versetzt«. Wir können […] sagen, daß wir in der Architektur »Mitspieler« sind, während wir in den Bildkünsten »Zuschauer« bleiben.

Auch wenn man mit Dagobert Frey den »Realitätscharakter« der Architektur bejahen wird, so greift seine Vorstellung von den Bildkünsten, die wir bloß rezipieren, ohne unmittelbar affiziert zu werden, zu kurz. Insbesondere vor solchen grenz- und gattungsüberschreitenden Kunstwerken wie denjenigen Bogners versagt das Rezeptionsmodell von Frey. Wir bleiben eben nicht nur »Zuschauer« der Objekte und Zeichnungen Karl Heinz Bogners, sondern wir werden zu »Mitspielern«. Als solche entdecken wir in den Zeichnungen Lagepläne, Grundrisse, Schnitte, Ansichten, in den Collagen auch Fotographien »realer« Architektur, vermessen sie und versuchen sie in unserem angelernten Verständnis »richtig« zu deuten und zu ordnen – und werden scheitern!

Was macht Bogners Kunst mit der Betrachterin, mit dem Betrachter? Sie verunsichert, weil sie entschieden uneindeutig ist. Mal sieht man eine lockere und gleichwohl ausponderierte Komposition aus graphischen Strichen, mal sind es Farbfelder, die spannungsvoll einander begegnen, mal sind es raumgreifende Plastiken. Alles erinnert an irgendetwas, ruft Assoziationen hervor, die einerseits vom Künstler provoziert werden, andererseits unser Formengedächtnis und unser Erfahrungswissen in Gang setzen. So kommt es beim Betrachten zu einer beständigen Selbstbefragung und Prüfung, ob das, was man sieht, auch das ist, was der Künstler intendiert hat, wenn er es denn intendierte. Und wenn er es so gedacht hat, ist es dann richtig, dass man es genauso nachvollzieht oder müsste jetzt nicht die Gegenreaktion erfolgen und der ganze Prozess wieder von vorn beginnen? In diesem unentrinnbaren circulus vitiosus liegt die hohe Qualität der Arbeiten von Karl Heinz Bogner. Die Zeichnungen, Bilder und Objekte provozieren – nicht zum Widerspruch, sondern zum Weiterdenken, vielleicht auch nur zum Genuss des Spiels der Formen, Linien und Flächen. Es muss also weitergehen in unseren Köpfen. Um Lessing zu zitieren: »Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir dazu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.« Das »freie Spiel der Einbildungskraft«, das Lessing bei der Betrachtung von Kunst ausgelöst sehen will, setzt auch vor Bogners Kunst ein.

Nun gibt es den generischen Betrachter nicht: »Man sieht nur, was man weiß«, wähnte schon Goethe. Unsere Wahrnehmung der Welt der Kunst ist eine antrainierte, beruht auf Vorwissen und auf gesellschaftlichen Kodierungen. Und so reagieren wir entsprechend: Wer sich mit abstrakter, konkreter Kunst beschäftigt hat, wird Bogners Gemälde in dieser Tradition platzieren. Architektinnen und Architekten werden etwas ganz Anderes sehen, architektonische Formen, Konstruktionen, Räume und Raumfolgen. Wir holen aus unserem visuellen Gedächtnis die Bilder hervor, die die meisten Entsprechungen haben. Und schon fühlen wir uns sicher, indem wir vergleichen, einordnen, klassifizieren und so zum Schluss zu einem Qualitätsurteil kommen. Ist dieses abgeschlossen und für uns selbst nicht weiter hinterfragbar, dann hat entweder das Kunstwerk seinen Sinn nicht erfüllt oder wir haben jenen Status von Saturiertheit verinnerlicht, den Kunst eigentlich aufbrechen will und aufbrechen muss, um Kunst zu sein.

Irritation und Verunsicherung ist jedoch nicht das Ziel der Kunst von Bogner, sondern das Gegenteil, nämlich Aufklärung! Aufklärung über Architektur, was Architektur sein kann und wieso Architektinnen und Architekten Architektur, Gestaltung der Umwelt betreiben und sich für sie verantwortlich für sie zeigen. Wie aber kann das vonstattengehen angesichts der Uneindeutigkeit der Werke Karl-Heinz Bogners? Wenn Zweifel an der Kohärenz der eigenen Wahrnehmung aufkommen, das Modell sich nicht als Modell für etwas Konkretisierbares erweist, die Zeichnung keine Möglichkeit bietet, sich Architektur zu verbildlichen, wenn ständig der Wunsch nach eindeutiger Lesbarkeit, nach konkretem Verständnis und vertrauten Formen zu abstrakten Fragmenten zerbröselt?

Der Weg aus diesem Dilemma ist in den Kunstwerken selbst angelegt, die uns integral einbinden: Wir werden zu produktiver Wahrnehmung aufgefordert. Die zu einem urbanen Ensemble zusammengestellten und auf einer Tischplatte präsentierten Objekte – das »Raumarchiv« – können jedes für sich in ihrer jeweiligen Raumaneignung betrachtet werden, gleichzeitig lässt die Installation auch Stadt mit ihren vielfältigen Räumen assoziieren. In beiden Fällen gibt es viel zu entdecken, das suchende und forschende Auge des Betrachters zoomt in die Objekte ein, sucht nach räumlichen Beziehungen, fragt sich nach Wirklichkeitsbezügen, löst sich sodann vom Detail und begibt sich in eine distanzierte Position, überschaut das Ganze, um dann beim Umkreisen der Installation wieder und wieder von vorn zu beginnen. Man könnte von einer Prozessästhetik sprechen, indem nicht nur das einzelne Objekt oder die Gruppe der Objekte Gegenstand des ästhetischen Erlebens sind, sondern sich dieses Erleben erst in der raum-zeitlichen Bewegung einstellt. Nicht anders verhält es sich bei den Gemälden, Zeichnungen, Notationen und Collagen. Hier ist jeder Strich, jede Fläche, jede Form ebenso wichtig wie die Gesamtkomposition, die Assoziationen zu Lageplänen mit Grundrissen, Ansichten, Schnitten und Aussagen zur Topographie auslösen. Auch hier findet ein ständiges Ein-und Auszoomen statt, dem wir uns nicht entziehen können.

Seit gut 25 Jahren stellt Karl-Heinz Bogner seine Kunst in Einzelund Gruppenausstellungen im In- und Ausland aus, meist in Kunstgalerien, in denen seine Werke durch den Präsentationsort eindeutig als Kunst definiert sind. Zum Jahreswechsel 2005/2006 stellte er erstmals in einer Architekturgalerie aus, dem Aedes East Extension Pavillon in den Hackeschen Höfen in Berlin. Dort und auch jetzt in der architekturgalerie am weißenhof wurde und wird seine Kunst in den Zusammenhang gerückt, aus dem sie stammt. Der ausgebildete Architekt stellt in einer Architekturgalerie aus, was ja ganz vernünftig und richtig erscheint. Die Erwartungshaltung des Publikums, das eine Ausstellung in einer Architekturgalerie besucht, ist mutmaßlich eine andere, als diejenige in einer Kunstgalerie. Architekturgalerien stellen ja in der Regel Architektur aus und werden in der Regel von Architektinnen und Architekten frequentiert. In Berlin wie jetzt in Stuttgart spielt auch der Ort der Galerien eine Rolle: Die Hackeschen Höfe werden auch wegen ihrer Architektur besucht, sich dort also weiter mit Architektur zu beschäftigen, liegt nahe. Noch unmittelbarer ist das Verhältnis von Ort und Galerie in Stuttgart. Wer auf den Weißenhof geht, will Architektur sehen! Gerade jedoch an solchen Orten entfaltet sich das Grenzgängertum Bogners auf besondere Weise. Das Formenrepertoire seiner Werke entstammt der Moderne, dem Konstruktivismus, den palimpsest-artigen Schichtungen und Überlagerungen des modernen Städtebaus. Auf dem Weg durch die Weißenhofsiedlung zum Behrens-Bau, wo die architekturgalerie ihre Räume hat, werden die Besucher beiläufig auf die Werke Bogners vorbereitet, man hat sich eingestimmt auf die Formenwelt der Moderne, hat den freien städtebaulichen Lageplan erfahren, Kuben mit ihren vielfältigen Raumbeziehungen wahrgenommen und – vielleicht auch – über die sozialen Konnotationen der Siedlung reflektiert. Die dann in der Galerie folgende Konfrontation mit den Werken Bogners wird besondere Assoziationen und neue Fragen an die Werke und auch neue Fragen an die Bauten der Weißenhofsiedlung auslösen. So kommt nicht nur zusammen, was zusammengehört, sondern es wölbt sich ein Denkraum über Siedlung und Ausstellung. Architektur als »künstlerisch gestaltete Realität« (Dagobert Frey) in der Siedlung und anverwandelte Architektur in der Ausstellung bilden ein neues Ganzes.

Klaus Jan Philipp
Architekturhistoriker, Leiter des Instituts für Architekturgeschichte der Universität Stuttgart und Vorstand der architekturgalerie am weißenhof e.V.